Auch wenn sie nicht allein für das verstärkte Interesse am Deutschunterricht in Frankreich verantwortlich ist, hat die deutschsprachige Gruppe „Tokio Hotel“ entscheidend dazu beigetragen, das Deutschlandbild vieler junger Franzosen aufzufrischen.
Ein Rockstar, der die Schule und, schlimmer noch, die Lehrer mag? Nicht möglich, das hat es noch nie gegeben und geben Sie zu, dass eine solche Einstellung nicht mit dem Auftreten eines gegen das System eingestellten Rebellen vereinbar ist. Aus diesem Grund setzen Bill Kaulitz und sein Zwilling Tom, das charismatische Zweigespann der 2001 in Magdeburg unter dem Namen „Devilish“ geborenen Pop-Rock-Gruppe „Tokio Hotel“, alles daran, bei jedem Interview folgendes zu wiederholen: „Für uns wird die Schule für immer unser schlimmster Lebensabschnitt bleiben. Nicht einer der Lehrer hat verstanden, was wir wollten, dafür waren sie zu borniert.“
Jetzt aber, so will es die Ironie des Schicksals, sind die größten Fans der vier derzeit angesagten 18–20-jährigen Deutschen gleich nach den in Bill oder Tom verknallten Gymnasiastinnen im Ausland und insbesondere in Frankreich ... die Deutschlehrer. Man braucht nur die Bilder von einem der zahlreichen Konzerte, die die Gruppe bereits in Frankreich gegeben hat, anzusehen, um eine Erklärung zu finden: Wohin der Blick auch fällt, ganze, ab und zu mit vereinzelten Jungen gesprenkelte Reihen junger Mädchen skandieren im Chor und, bitte schön, auf Deutsch alle Lieder der Gruppe. Kurzum, ein Nirwana für alle, die die Sprache Goethes unterrichten, kennt man die Schwierigkeiten, mit denen sie normalerweise konfrontiert sind, um ihre Schüler für das Fach zu begeistern oder auch nur, um ihre Klassen voll zu bekommen. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat die deutsche Sprache bei den französischen Schülern, die häufig das als attraktiver und in wirtschaftlicher Hinsicht rentabler erachtete Spanische bevorzugen, stark an Beliebtheit verloren.
Erst seit kurzem, seit dem 2004 eingerichteten „plan de relance des langues du partenariat francoallemand“ besuchen die französischen Collège- Schüler wieder verstärkt die Deutschkurse, so dass ein Anteil von 15 % pro Altersgruppe erreicht wird.
Was, wenn „Tokio Hotel“ in diesem Zusammenhang die von den Deutschlehrern lang ersehnte Rettung brächte? Auch wenn diese soweit nicht gehen möchten, haben doch einige von ihnen in Bezug auf „Tokio Hotel“ ein Vorher beziehungsweise Nachher registriert. Das ist zum Beispiel der Fall für Jocelyne Maccarini, Lehrerin am Collège Pierre-Brossolette in Rehon (Meurthe-et- Moselle), deren Schüler der ‘cinquième’ nach einer Tournee der Gruppe in ihrer Region im letzten Jahr fast alle zwei zusätzliche Deutschstunden gewählt haben. „Ich bin immer auf der Suche nach Themen, die den Schülern mehr zu sagen haben als die, die in den Schulbüchern angeboten werden und empfinde ‘Tokio Hotel’ daher als einen wahren Segen“, erklärt diese Lehrerin, die schon das dritte Jahr in Folge mit ihren Klassen einen Text der Gruppe durchnimmt.
Bei Martine Pulver sieht die Lage ganz anders aus. Nach Ansicht der Deutschlehrerin am Collège Octave Gréard im 8. Arrondissement von Paris darf das Phänomen nicht überschätzt werden:
„Es gab schon einige Schüler, die mir anlässlich der traditionell angeregten Umfragen in der ‘cinquième’ gestanden haben, dass sie ohne ‘Tokio Hotel’ Spanisch genommen hätten, aber das ist nur eine Randerscheinung“, unterstreicht sie. Was ihren Unterricht anbelangt, so hat diese Lehrerin nicht einmal daran gedacht, „Tokio Hotel“ in ihren Lehrplan zu integrieren, da keine diesbezügliche Bitte an sie herangetragen wurde – anders, als es vor einigen Jahren für die ebenfalls deutschsprachige Gruppe „Rammstein“ der Fall gewesen war.
Sollte man sich also davor hüten, in „Tokio Hotel“ einen automatischen Auslöser für germanistische Berufungen zu sehen, so kann man doch davon ausgehen, dass die Gruppe zumindest dazu beigetragen hat, das Deutschlandbild der jungen Franzosen aufzufrischen. Jedenfalls fällt so die Analyse von Günther Kipfmüller aus, dem stellvertretenden Direktor des Pariser Goethe-Instituts: „Mit dieser Gruppe assoziiert das Publikum spontan Vorstellungen von Modernität, Leichtigkeit und Jugend. Alles positive Richtigstellungen verglichen mit den Vorurteilen, die noch in vielen ausländischen Köpfen herumspuken und ein militaristisches und autoritäres Deutschland betreffen, das mit dem heutigen Land ganz einfach nichts mehr zu tun hat“. Diejenigen, die daran noch ihre Zweifel haben, können es in natura beurteilen. Marine, Schülerin der ‘troisième’ am Collège in Yutz (Moselle), gibt folgende Auskunft: „Ich persönlich habe Deutsch immer meinen Freundinnen gegenüber verteidigt, die diese Sprache hässlich, unnütz und, um ehrlich zu sein ... naziartig fanden. Jetzt gehören sie zu den ersten, die Bill auf Deutsch singen hören“. Von Hitler zu Bill Kaulitz – das nennt man im Marketing- Jargon eine nicht schlecht geglückte Imageberatung. 500 000 Kopien haben sich bisher von den drei CDs der Band in Frankreich verkauft, was Doppel- Platin und einer Goldenen Schallplatte entspricht.
Stimmen einer Generation? Obwohl Bill, Tom, Georg und Gustav – die vier Mitglieder von „Tokio Hotel“ – in Ostdeutschland geboren wurden, kennen sie, wie schon der Gruppenname besagt, keine Grenzen. Es sind Kinder ihrer Zeit. Sie haben die Lektionen der Älteren einigermaßen satt – und sie haben es eilig, die Welt zu erobern. Die vier angesagten Jungs verdanken ihren Erfolg sicher zum Großteil der Tatsache, dass sie in Text und Musik die Erwartungen und Probleme einer ganzen Generation verarbeitet haben. Kein Wunder, dass sich so viele junge Menschen mit ihren Texten identifizieren, wenn diese vier aus Magdeburg stammenden Deutschen ihnen doch so ähnlich sind.
Geschiedene Eltern und Patchwork-Familie für die Zwillinge Bill und Tom, Zukunftsangst für alle vier, hätte die Musik sich nicht als Ausweg angeboten. Gleichzeitig kommt es für die Band-Mitglieder nicht infrage, sich als Vertreter einer „lost generation“ zu sehen: „Es ist nur so, dass das Schreiben von Liedern wie das Schreiben eines Tagebuchs ist. Und wie in einem Tagebuch schreiben wir meistens das, was uns traurig macht, das erklärt die häufige melancholische Färbung unserer Lieder. Aber wir versuchen trotzdem immer, unsere Texte mit einer positiven Botschaft zu versehen.“
Und immer auf Deutsch. Zumindest in der Anfangszeit, bevor die meisten ihrer Lieder aus Marketing-Gründen ins Englische übersetzt wurden. Sind sie stolz darauf, Deutsche zu sein? „Stolz ist sicher nicht das richtige Wort. Mit diesem, unserem Land verbunden, das ja. Aber die Tatsache, dass wir alle unsere Lieder zuerst auf Deutsch schreiben, hat nichts damit zu tun. Das machen wir ganz einfach deshalb, weil uns der Inhalt unserer Texte extrem wichtig ist.“ Keine Scham also, sich als deutsch auszugeben, aber sicherlich auch kein Nationalismus. Die Band verbindet jegliche Grenzvorstellung mit einer mentalen Sperre. Beispielsweise die zwischen dem ehemaligen Ostdeutschland, wo sie noch geboren wurden, und dem früheren Westdeutschland: „Ossi oder Wessi, das sind Begriffe, die in unserer Generation nicht mehr gefragt sind. Die Tatsache, dass wir im Osten geboren sind, ist absolut nicht ausschlaggebend für unsere Identität. Wir sind in ein und demselben Deutschland aufgewachsen.“ Dem Deutschland, das endlich einen Nachfolger für „Rammstein“ gefunden hat, der letzten deutschsprachigen Gruppe, die über die heimischen Grenzen hinaus bekannt geworden war ...