Als die Geschichte der Boyband in Magdeburg begann, hat wohl niemand damit gerechnet, dass Tokio Hotel (∆ Tokio Hotel) auch Lateinamerika erfolgreich sein würden. Aber genau das ist jetzt passiert.
Nachdem Tokio Hotel bei den MTV - Latino Awards vor drei Wochen gleich vier der begehrten Preise abgeräumt haben, kommt die aktuelle Knallermeldung aus Mexiko. Da hat die englische Version von “Durch den Monsun” (engl. Titel “Monsoon”) Platz 3 der Radiocharts erobert.
Der Titel “Ready Set Go” erklomm sogar die Spitze der Charts und notiert aktuell auf der 1. Tokio Hotel hat die mexikanische Chartliste somit fest im Griff.
Auch für die MTV European Music Awards am Donnerstag dieser Woche sind die sympatischen Magdeburger in zwei Kategorien (”Bester Act aller Zeiten” und “Headliner”) nominiert.
Man darf gespannt sein, welches Land die Vier als Nächstes erobern. Die musikalische Weltherrschaft scheint nur noch eine Frage der Zeit.
International wird die Popband Tokio Hotel mit Ruhm und Ehre überschüttet, hierzulande ernten die vier Jungs nur Häme. Dabei geht es nicht um die Musik, sondern um geballte Vorurteile. Doch nicht nur der Erfolg gibt der Boyband recht.
Dass das Popgeschäft böse und schnelllebig ist, dürfte sich herumgesprochen haben. Doch selbst hier gibt es so etwas wie die Gerechtigkeit der Zeit: Irgendwann, wenn einmal jeder dumme Witz gemacht wurde, besteht die Chance, dass der Blick frei wird und man vielleicht kurz die Wahrheit durchs Bild huschen sieht. Ein ungeschriebenes Gesetz im Pop-Betrieb besagt: Je größer der Erfolg, desto einfältiger und hämischer mitunter die Kritik - gerade hierzulande.
Im Falle von Tokio Hotel, Deutschlands einfachster Zielscheibe für humoristische Grobmotoriker, bündelte sich von Anfang an alles, worüber man in diesem Land gern den Mülleimer ausleert: Kritik an Tokio Hotel und ihrem androgyn auftretenden Sänger Bill Kaulitz war meistenteils reine Häme. Und es ging weniger um Häme gegenüber der Musik, als vielmehr um gebündelte Häme gegenüber der "dummen Jugend", gegenüber sexueller Uneindeutigkeit, gegenüber Ostdeutschland und natürlich gegenüber der bösen Musikindustrie, die junge Menschen gefährliche Träume suggeriert und hernach versklavt und aussaugt.
Die meisten Angriffe gegen die Band folgten mindestens einem dieser Prinzipien. Wer auch nur irgendetwas gegen Jugendliche, Androgynität, Ostdeutsche oder eskapistische Popmusik hatte, dem mussten Tokio Hotel ein gern genommener Grund für Schlechte-Laune-Reflexe sein. Während aber alles munter - und mindestens so publikumssehnsüchtig wie die Band selbst - auf Tokio Hotel eindrosch und sich an experimentellen Frisuren und Ausfällen vor Interview-Mikrofonen delektierte, sind die vermeintlichen One-Hit-Wonder zum erfolgreichsten deutschen Pop-Act seit Ewigkeiten geworden.
Und das in einem Land, in dem Popstars entweder Vertreter des gesunden Menschenverstands, Vollprolls oder Aufziehpuppen sein müssen. Soviel hochtoupiertes Geheimnis wie bei Tokio Hotel gab es jedenfalls noch nie. Der scheinbar seriöseste Vorwurf gegenüber Tokio Hotel, die an diesem Donnerstag für zwei MTV European Music Awards in den Kategorien "Best Act Ever" und "Headliner" nominiert sind, ist wohl jener, demzufolge die Band ein von Produzenten am Reißbrett entworfenes Kunstprodukt ist: ein bizarrer Vorwurf in einem Geschäft, das seit den Fünfziger Jahren mit zunehmender Präzision Träume und Sehnsüchte bedient und schon immer mit Verführung und Weltflucht handelte.
In diesem Zusammenhang - und gerade in Abgrenzung zu allen gleichförmigen Bohlen-Kreationen - sind Tokio Hotel der seltene Fall eines nachgerade perfekten, international konkurrenzfähigen Deutschpop-Produkts. Vor allem deshalb, weil sich in ihm auf einmalige Weise Authentizität und cleveres Marketing verbinden.
Die Karriere von Tokio Hotel begann im Jahr 2003. Bill Kaulitz, damals 13, war bei einer "Star Search"-Sendung mit einer "It's Raining Men"-Darbietung durchgefallen, hatte aber durchblicken lassen, daheim in Magdeburg in einer Band namens Devilish zu spielen. Der auf Kindermusik spezialisierte Produzent Peter Hoffmann spürte das Potenzial und sah sich die Band in einem Club an.
Schon damals war Kaulitz' Verkleidung irgendwo zwischen Manga-Figur und Fantasy angesiedelt. Hoffmann und seine Mitproduzenten (darunter der Ex-Boyband-Sänger und heutige Tokio Hotel-Co-Texter David Jost) spürten sofort, dass sich das Talent der vier Jungs wie eine Rohmasse durch gezieltes Training in ein Erfolgsprodukt umwandeln ließe. Nachdem ein erster Plattenvertrag geplatzt war, unterschrieben Hoffmann und Partner bei Universal und holten das Teenie-Blatt "Bravo" als wichtigen Unterstützer mit ins Boot.
"Durch den Monsun", die erste Single, schlug sofort ein und traf auf einen Markt, der aufgrund des Erfolgs deutschsprachiger Pop-Musik eine Teenie-kompatible Variante begierig aufsog. Auch hier zeigt sich wieder die Qualität von Tokio Hotel: Ihre Songs - um kein Pathos, keinen Weltschmerz und keine große Geste verlegen - machen aus der Pubertät ein cleveres Pop-Musical - glaubwürdig und verkitscht überhöht zugleich.
Doch ohne Frontmann Bill Kaulitz - diesen 19Jährigen, der mehr Glam und Dramatik im kleinen Finger hat als die gesamte biedere Konkurrenz - wäre es wohl alles nichts geworden. Inzwischen - nach über 5 Millionen verkauften Platten, ausverkauften Tourneen und unzähligen Preisen - hebt die Band längst auch international ab: Sie waren in den französischen Top20, spielten in Russland vor ausverkauften Hallen, erreichten Platz 1 der mexikanischen Radiocharts und schafften es mit ihrem ersten englischsprachigen Album sogar in die amerikanischen Top40 - Ende offen. Deutschland mag ruhig weiterlachen. Immer noch besser man lacht über Tokio Hotel als über das andere konkurrenzlose deutsche Erfolgsprodukt: Mario Barth.
Ich finds immer wieder unglaublich, wie wir deutsche doch immer und immer wieder reagieren. Anstatt stolz auf ein deutsches Produkt als Export-Schlager zu sein ... nein, es wird immer wieder draufgehauen.
Auch diese Wort Teeni-Band ... so langsam krieg ich da einen richtigen hass auf meine Staatsangehörigkeit.
Da bin ich doch dann mal froh drüber, das es auch noch genug andere Menschen gibt, die nicht so denken wie die Mehrheit. Ich werd leider auch immer richtig wütend, wenn über die Jungs, wie auch immer gelästert wird. Irgendwie find ich das total zwar auch blöde, ist aber so.
Diese Häme und Nicht-Ernst-Genommen-Werden ist sicherlich auch ein Grund, warum sie in Deutschland auch oft viel verkrampfter auf der Bühne und vor der Kamera stehen... Im Ausland müssen sie inzwischen in vielen Ländern einfach nichts mehr beweisen, da werden sie für voll genommen.
Bemerkenswert finde ich folgenden Satz: "Doch selbst hier gibt es so etwas wie die Gerechtigkeit der Zeit: Irgendwann, wenn einmal jeder dumme Witz gemacht wurde, besteht die Chance, dass der Blick frei wird und man vielleicht kurz die Wahrheit durchs Bild huschen sieht."
Da habe ich schon drüber nachgedacht, wann wohl dieser Punkt bei Tokio Hotel endlich eintritt, an dem endlich mal diese abgenudelte Gerede von Teenie-Band, Retortenprodukt usw. aufhört. Wann die Band endlich mal als erwachsene Künstler zur Kenntnis genommen wird. Der frühe Erfolg, als sie eben noch sehr kindlich aussahen, war nicht nur Segen sondern auch ein sehr großer Fluch...
Ich denke,dass die meiste Antipathie darin besteht,dass TH schon in so frühen Jahren angefangen haben. Die meisten Menschen werden sich damals das Alter der Jungs betrachtet haben und sich gedacht haben,dass man so 'ne Teenieband eh nicht ernst nehmen kann. Deshalb haben sie sich nicht mit der Musik auseinander gesetzt,sondern TH schnell in eine Schublade gesteckt. Desweiteren haben TH einen etwas ausgefallen Style. Und leider ist es ja so,dass Leute gerne abwehrend reagieren,wenn ihnen etwas fremd ist. Dann kommt noch die ganze Historie der Mädels hinzu. Bands die hauptsächlich Tennie-Girls als Fans haben,haben es schon immer schwer gehabt von anderen Gruppen akzeptiert zu werden.
Generell frage ich mich gerade,warum es vielen so wichtig ist,dass TH von allen gemocht werden sollen?!? Mir ist es eigentlich relativ egal,wieviele sie mögen. Hauptsache ist doch,dass uns die Band gefällt.Es hat halt jeder seinen ganz eigenen Geschmack.
Sehr richtig, bis auf den letzten punkt. Ich wünsche mir das TH von allen Respektiert werden und wir vernünftigen Fans es nicht mehr geheimhalten müssen, weil wir im Schatten der Peinlichen Fans stehen...
Triumphzug: Rockbands kommen und gehen, doch eine wie Tokio Hotel gab's noch nie – sogar Experten rätseln über das Phänomen
Liebe Eltern, es könnte länger dauern ...
In ihren Konzerten verlieren Teenager schon mal den Verstand, im Ausland stürmen Fans die Goethe-Institute, um Deutsch zu lernen. Jetzt hat der Sender MTV die Gruppe um Bill Kaulitz als weltbeste Live-Band gekrönt. Solch ein Erfolg ist nicht planbar. Er hat auch etwas damit zu tun, dass sich die junge Internet-Generation mit ihren Idolen auf Augenhöhe fühlt.
Von Heinrich Oehmsen und Tino Lange
Hamburg -
Hamburgs Color-Line-Arena, 2. Mai 2007. Das Konzert von Tokio Hotel ist gerade zu Ende, da passiert es: Schlagzeuger Gustav Schäfer wirft sein vollgeschwitztes Handtuch in die erste Reihe und eine Traube von Mädchen, die kurz vorher noch Plakate mit Sprüchen wie "Bill, Du bist süßer wie jede Erdbeere" hochgehalten haben, stürzt sich auf das Stück Stoff. Mindestens 20 Handpaare krallen sich in den begehrten Fetzen, die Teenager drängeln, kreischen, ziehen einander an den Haaren. Die Saalordner sind hilflos.
Draußen vor der Arena warten noch Hunderte Eltern auf ihre Kinder, die teilweise 20 Stunden vor den Eingängen campiert hatten, um einen Platz in den ersten Reihen zu bekommen. Am Ende bleiben umherwehende Fetzen von Wärmefolien zurück, die Rettungssanitäter in der Nacht an frierende Fans ausgegeben hatten.
Es sind stumme Zeugen eines deutschen Pop-Phänomens, das wie ein Monsun in den letzten Monaten auch über Europa, die USA und Südamerika hinwegfegte. Allein in diesem Jahr heimste Tokio Hotel unter anderem eine Goldene Kamera, einen Echo, VIVA-Cometen sowie zahlreiche nord- und lateinamerikanische und europäische MTV-Awards ein. Nicht nur Musik-Experten, Eltern und "TH-Hasser" (Fan-Jargon für die Gegner von Tokio Hotel) rätseln wieder und wieder, wie das Phänomen zu erklären ist. Dabei war alles so einfach. Oder nicht?
Das System Tokio Hotel beginnt bereits im Jahr 2003. Da entdeckt der Musikproduzent Peter Hoffmann bei der SAT.1-Casting-Show "Star Search" den 14 Jahre alten Bill Kaulitz. Der fliegt zwar früh aus dem Wettbewerb, doch Hoffmann schaut sich Kaulitz' Schülerband in deren Probenraum in einem Dorf bei Magdeburg an - und ist begeistert. Er lädt die vier Jungs, die sich damals noch Devilish nennen, in sein Studio ein und macht mit ihnen Demo-Aufnahmen. Der Musikkonzern SonyBMG schließt mit der unbekannten Newcomerband für viel Geld einen Vertrag, weil man das Potenzial erkennt. Doch als das Debütalbum fertig ist, bekommen die Manager angesichts des hohen Marketing-Etats kalte Füße und steigen aus dem Vertrag aus. 2005 nimmt der Konkurrent Universal die vier von Tokio Hotel unter Vertrag und startet das Projekt mit großem Werbeaufwand und der massiven Unterstützung der Zeitschrift "Bravo". Die Macher des Jugendmagazins hatten erkannt, dass man nach den Erfolgen der Gruppen Juli und Silbermond mit Tokio Hotel auch Rockmusik bei der Generation der Acht- bis Zwölfjährigen an das Kind bringen kann. Bereits am 3. August 2005 veröffentlicht "Bravo" eine Story unter dem Titel "Tokio Hotel - die neue Superband". Die erste Single "Durch den Monsun" erscheint erst fünf Tage später.
In den vorangegangenen zwei Jahren haben Hoffmann und ein weiteres Produzententeam, zu dem auch der jetzige Manager David Jost gehört, die Band mit Musik- und Gesangsunterricht gedrillt, um sie auf den dann folgenden Höhenflug vorzubereiten. "Durch den Monsun" läuft auf allen Videokanälen, die "Bravo" denkt sich jede Woche eine neue Story über Bill, seinen Zwillingsbruder Tom und die beiden anderen Bandkollegen Gustav und Georg aus und steigert so seine Auflage. "Tokio Hotel ist die beste Newcomerband seit Jahrzehnten gewesen. Tom und Bill Kaulitz hatten Star-Appeal, sie waren speziell, und deshalb haben wir die Band von Anfang an massiv gepusht", sagt Christian Schommers, stellvertretender Chefredakteur der "Bravo". Und Alex Richter, der weltweite Tourveranstalter von Tokio Hotel, schwärmt: "Ich habe noch mit keiner Gruppe gearbeitet, die so fleißig und so diszipliniert ist."
Dennoch: Ein Erfolg wie der von Tokio Hotel ist trotz aller Marktmacht der Strategen im Hintergrund nicht planbar. Die von Universal 2006 und 2007 ins Feld geschickten Tokio-Hotel-Derivate Killerpilze und Cinema Bizarre waren aus kommerzieller Sicht ein Flop, weil die Zielgruppen das Spiel schnell durchschauten. Denn die Fans, nicht die "Bravo" oder die PR-Abteilungen der Plattenfirmen, sind es, die das geschaffen haben, was Tokio Hotels Erfolg vielleicht am meisten begründete: die Gemeinschaft. Wie nie zuvor in der Geschichte von Pop-Bewegungen sind ihre Antreiber weltweit im Internet über Myspace, Youtube und andere Communitys vernetzt und tauschen sich dort aus. Die Myspace-Seite von Tokio Hotel verzeichnete in zwei Jahren mit acht Millionen Besuchern doppelt so viele wie die der Rolling Stones, das Video zum Song "Schrei" wurde auf Youtube neun Millionen mal aufgerufen.
Wer Bill, Tom, Gustav und Georg liebt, der weiß also, dass er nicht allein ist. Denn der Druck auf Teenager, sich in Sachen Pop-Musik eindeutig zu positionieren, ist so alt wie der Pop selber. Beatles oder Rolling Stones? Prince oder Michael Jackson? Take That oder Backstreet Boys? Tokio Hotel oder nicht Tokio Hotel? Die Trennlinien auf dem Schulhof sind klar gezogen. Das "Von den Deppen bist Du Fan?" hört man immer wieder, wie die Öjendorfer Schülerin Bianca B. Breitenfeldt für das Abendblatt-Projekt "Schüler machen Zeitung" das Dilemma beschrieb.
Und doch ist es heute einfacher, Leidenschaftsgenossen zu finden als zum Beispiel noch in den 90ern, als Take That oder die Kelly Family das stark polarisierende "Bravo"-Ding der Stunde waren. Der Schulkamerad lästert? Die Eltern haben kein Verständnis? Egal. Das macht die Treue der Fans nur stärker. In den Internet-Foren diskutiert man Tokio-Hotel-Neuigkeiten, schaut sich Videos von Konzerten an und verabredet sich für Konzerte.
Und dort, bei den Konzerten, sind alle vereint: "Dieses Gefühl, wenn das Licht ausgeht, ist einfach unbeschreiblich - Adrenalin pur" schrieben Franziska Krüger und Janina Hünerberg aus Blankenese für "Schüler machen Zeitung". Rock-Riffs und Mädchen-Kreischen schaffen einen Phon-Orkan, der den Verstand aussetzen lässt - Emotion pur. Die Fans und die gleichaltrige Band singen über Gefühle, Liebe, Liebeskummer, Ablehnung und Auflehnung und sind eins - zumindest bis Gustav das Handtuch wirft.
Diese Dynamik überwindet alles, sogar Sprachbarrieren fallen, sei es, dass Tokio-Hotel-Songs auf englisch neu aufgelegt werden oder Fans in Frankreich und anderswo die Goethe-Institute stürmen, um rasch etwas Deutsch zu büffeln. Im Ausland entstand der Rummel zuerst über den Look der Band, der mit seiner Mischung aus androgyner Manga-Diva (Bill), Skater-Boy (Tom), Rocker (Georg) und Knuddelbär (Gustav) in Frankreich oder in den USA wie zuvor in Deutschland eine im Mainstream noch unbekannte Nische besetzte. Der Rest war Rock über Gefühle, die bei jungen Menschen weltweit identisch sind. Dass die Songs aus fremder Feder stammen und die PR-Mühle auch den letzten Euro herausholt, ist Nebensache, solange es die Jungs glaubwürdig schaffen, mit ihren Fans auf Augenhöhe zu kommunizieren.
Wie lange aber werden Bill, Tom, Gustav und Georg noch oben bleiben? Erste Anzeichen abnehmender Popularität in Deutschland wie die nicht ausverkaufte jüngste Tour wird durch den enormen Druck im Ausland überdeckt, sorgt aber bei vielen hiesigen Fans für das Gefühl, vernachlässigt zu werden.
Und die Band selber? Einen Absturz, so die vier in "Bravo", würden sie "nicht verkraften, wir haben alles für die Band aufgegeben - ein normales Leben ist ja kaum noch möglich."
Und so will sich Tokio Hotel weiter etablieren, ein drittes Album aufnehmen, Neues wagen. Und beweisen, dass sie nicht, wie es in einem ihrer Songs heißt, "totgeliebt" sind.
MTV Europe feiert in Liverpool, aber der Pop ist anderswo
Der Blick in die Meldungen am Tag nach Preisverleihungen des ehemaligen Musiksenders MTV ist immer ein großer Spaß. Die Ehrungen in gerne vollkommen unsinnigen und ohnehin kaum unterscheidbaren Kategorien werden allüberall so bierernst vermeldet wie die Nobelpreise. Auch von den diesjährigen Europe Music Awards, die in Liverpool stattfanden, gäbe es also wieder Gewichtiges zu vermelden: "Best Rock Act" wurde die glücklicherweise völlig unbedeutende amerikanische Chartrock-Band 30 Seconds To Mars. Beste Rockband - das war noch eine verhältnismäßig eindeutige Kategorie. 30 Seconds To Mars bekamen aber auch den Preis als "Video Star", also für das beste Video, was nicht nur deshalb wie ein Trostpreis klingt, weil der Sender nun eigentlich überhaupt keine Musikvideos mehr sendet. Die amerikanische Sängerin Britney Spears bekam trotz Abwesenheit zwei Preise. Ihr Album "Blackout" wurde zum Album des Jahres gekürt und für ihr grundsätzliches Britney-Spears-und-wieder-da-sein-nach-der-schlimmen-Krise bekam sie den Preis "Best Act 2008".
Besonders Deutschland freut sich darüber, dass die Magdeburger Band Tokio Hotel nach ihrem Preis bei den diesjährigen amerikanischen MTV-Awards auch bei den europäischen gewann. Der Sender, vielmehr angeblich natürlich seine Zuschauer, bestimmten sie zur besten Live-Band 2008. "Best New Act" wurde Katy Perry, die die Show auch moderierte. Den besten Song hatte Pink, Fettes Brot wurde die beste deutsche Band, Kanye West der beste R"n"B-Künstler. Und so weiter. Stop: Paul McCartney bekam natürlich von Bono noch den Preis für sein Lebenswerk und vermutete völlig zu Recht, dass er nun eben als "MTVs Supreme Being" herhalten musste. Das war der logische Tribut an den Austragungsort - und an den Pop, der inzwischen ein wirklich unheimliches Bewusstsein für seine Geschichte und Geschichtlichkeit entwickelt hat. Sollte man sich also doch bald ernste Sorgen machen um den internationalen Highscore-Pop und seinen fleißigen Schöpfer und Agenten MTV?
Vielleicht, der Sender wollte sich in diesem Jahr auf jeden Fall in der ihm ureigenen Disziplin des ästhetischen Extremismus überhaupt nicht selbst übertreffen. Das meiste wirkte überraschend lustlos und zaghaft. Vielleicht aber war die Veranstaltung auch einfach ungünstig terminiert. Das größte Popereignis des Jahres hat schließlich gerade kurz zuvor in Amerika stattgefunden: die Wahl Barack Obamas zum US-Präsidenten. So geriet die Sache zu einer Art Aftershow-Party der amerikanischen Wahl und alle durften dem neuen schwarzen Präsidenten huldigen.
Dass das auf der ganzen Welt 30 Millionen Menschen sehen wollten, wie der Sender mitteilte, ist kaum zu glauben. Der Marktanteil von MTV liegt etwa in Deutschland meist bei unter einem Prozent. Aber gut. Die Kunst besteht niemals darin, tatsächlich der Größte zu sein. Die Kunst besteht natürlich darin, von allen für den Allergrößten gehalten zu werden. Blöd nur, wenn irgendwo gerade wirklich etwas Außergewöhnliches passiert.
Stand heute bei uns in der Tageszeitung vom 8.11.08
Willkommen in der Pop-Elite
MTV Europe Music Awards: Tokio Hotel gewinnt den wichtigsten Preis
Vielleicht ist es an der Zeit, ein Missverständnis aufzuklären und Abbitte zu leisten – Abbitte für das Erwachsenenvorurteil, Tokio Hotel sei ein verachtenswertes Teenager-Kreisch-Projekt für unter 14-jährige Bushaltestellenrumsteherinnen,eine Taschengeldabzocknummer zynischer Musikmanager mit zwei Milchgesichtern,einem Rastazopfträger und dessen schrillen Zwillingsbruder.Und jetzt das:Sieben Wochen nach dem Triumph bei den,,MTV Video Awards''in Los Angeles hat die Band gestern in Liverpool bei den,,MTV Europe Awards''den wichtigsten Preis gewonnen,die Auszeichnung für die beste Liveband-gegen Metallica,die Foo Fighters,Linking Park und The Cure.Es ist leicht,sich über Tokio Hotel zu mokieren,und der (deutsche)Kulturbetrieb tut das mit zerstörerischer Lust:Bill,Tom,Georg,Gustav-vier kleine Nachwuchspopper aus dem Dorf Loitsche bei Magdeburg,leichte Ziele für Hohn und Spott.2007 belegte der Sänger Bill Kaulitz bei der ,,FHM''-Wahl zur,,Unisexiest Women Alive''(jawohl)Platz 27,in der PRO 7-Ranringshow,,Die 100 nervigsten Deutschen''landete er auf Platz 1.
Es nützt alles nichts:Berlin,Paris,Moskau,Jerusalem,New York-langsam wird Tokio Hotel zum globalen Pop-Phenomen.Ignorieren lässt sich ser Sigeszug nicht mehr.Lässig spielt die Truppe mit der Ikonografie der Popgeschichte,nicht nur in Bills androgynem Äußeren mit Stachelkopf,Kajal-Augen und schwarz lackiereten Fingernägeln. In Deutschland sind sie Bravo-Helden,überall sonst tauchen sie in,,cooleren''Zusammenhängen auf:In der US-Ausgabe des Edelmagazins,,Vanaty Fair''stehen Tokio Hotel-fotografiert von Starfotografin Ellen von Unwerth-gar stellvertretend für eine neue,urbane Jugendkultur. ,,Es ist nur noch eine Frage der Zeit,bis der Rest von uns die Wahrheit erkennt:Diese komischen Typen sind schrecklich liebenswert.''
Auf Werbetour in den USA, wo ihr Album „Scream“ Platz fünf der Rockcharts erreichte, spielten sie im legendären Fillmore Club in San Francisco, wo Santana, Pink Floyd, The Doors, The Who auftraten. Ihr US-Label Interscope hat auch Gwen Stefani und Eminem unter Vertrag. Deutschsprachige Popmusik in den USA – außer bei Rammstein und Nenas „99 Luftballons“ war das bisher eine eher aussichtslose Mission.
Und jetzt? Was ist passiert? Ist Tokio Hotel doch mehr als eine Kinderkapelle mit lustigen Frisuren für die Jahre zwischen Rolf Zuckowski und Fettes Brot? Muss das erwachsene Deutschland doch noch sein Tokio-Hotel-Bild revidieren? Oder – wie die treue Fangemeinde zu Recht fragen könnte: „Na? Habt ihr‘s auch schon gemerkt?“
Musikalisch verharrt die Band in dünnem, konventionellem Mädchenversteherpop, liefert routiniert den Soundtrack zur Pubertät, und ein großer Sänger wird Bill Kaulitz (19) nicht mehr werden, darüber kann man kaum streiten. Kulturell aber wächst ihre Bedeutung. In Israel, wo „Monsoon“ die Chartspitze erreichte, lernen tausende Jugendliche anhand von Tokio-Hotel-Texten freiwillig Deutsch, einst als „Sprache der Täter“ verschrien. Aber sie sind mehr als Botschafter deutschen Pops, sie sind global funktionierende Rollenmodelle, gerade Bill dient Jugendlichen im Überfluss der Möglichkeiten, in der Multioptionalität der denkbaren Lebensentwürfe, als Stilikone.
Und so standen Tokio Hotel in der Nacht zum Freitag in Liverpool noch etwas fremdelnd neben Paul McCartney, den U2-Sänger Bono als „St. Paul McCartney“ für sein Lebenswerk ehrte. Verwirrt verfolgten sie die Auszeichnungen für Pink („Beliebtester Song“), für Rick Astley („Best Act Ever“) und die US-Rockband 30 Seconds to Mars („Bester Rock Act“ und „Bestes Video“). Aufstehfrauchen Britney Spears wurde in Abwesenheit gleich zweimal geehrt („Album des Jahres“, „Act des Jahres“). Dazwischen vier Jungs aus Magdeburg. „Es ist verrückt“, sagte Bill Kaulitz hinterher. Recht hat der Mann. Willkommen in der Pop-Elite.